Dieser Beitrag erschien zuerst in der Ausgabe 169 der Kulturpolitischen Mitteilungen (Wiedergabe hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin).
Wir stecken mitten in der Krise. Alles dreht sich um Corona und erst seit ein paar Tagen beginnt allmählich wieder das Denken über andere Themen und das Nachdenken über die Effizienz und über die Konsequenzen von getroffenen Maßnahmen setzt ein.
Christiane Busmann
… ist Geschäftsführerin des soziokulturellen Zentrums Schuhfabrik in Ahlen.
Wir in der Schuhfabrik haben dieses Jahr mit einem Planungswochenende gestartet und uns mit Digitalisierung und analogen Räumen beschäftigt. Das Projekt „Willkommen im echten Leben“, gestartet in 2018, soll auf der einen Seite Lust auf das Entdecken von digitalen Techniken machen und uns einladen über deren Einsatzmöglichkeiten und gesellschaftliche Wirkungen nachzudenken. Andererseits soll es den Wert von analoger Begegnung verdeutlichen.
Für das Projektjahr 2020 planten wir die Entwicklung von FakeNews. Wie entstehen sie, woran erkennen wir sie und wie entlarven wir sie? Wer prägt unsere Meinungen und wie entwickeln wir Positionen und wie entstehen daraus Haltungen? All dies sollten Fragen sein, die wir mit viel Spaß und einem gehörigen Schuss Ironie bearbeiten wollten. Den Ausgangspunkt zu all dieser Auseinandersetzung bildete die beeindruckende Rede von Chimamanda Adichie „Die Gefahr der einen einzigen Geschichte“. Darin beschreibt sie in einer wunderbaren, bildhaften Sprache das Entstehen von eindimensionalen Geschichten, die grundsätzlich unvollständig sind. Das ist es, was die FakeNews ausmacht: die Reduktion auf eine schlichte Aussage, die aus dem Kontext gerissene Wahrheiten verkündigt und Komplexität genommen wird.
Im März sitzen wir plötzlich in einer anderen Welt. Noch gestern Undenkbares ist heute für uns Alle Realität geworden. Und die Bundesregierung startet Werbekampagnen in denen sie sich für den Nichtkontakt bedankt. Schreckensszenarien füllen sämtliche Medien und kaum einer wagt die Maßnahmen in Frage zu stellen.
Alle Kulturveranstalter und meine KollegInnen in den soziokulturellen Zentren sind aktuell herausgefordert neben den Absagen von Veranstaltungen, Beantragungen von Soforthilfen und Kurzarbeitergeld und wirtschaftlichen Fragen, auch perspektivisch den Fortbestand von Kultur und Begegnungsorten zu sichern. Und daneben beunruhigen uns auch die großen, gesellschaftlichen Fragen nach den Entscheidungen zu den getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie nicht nur in Deutschland und der Fortbestand der Demokratie…
Juli Zeh, Autorin und Verfassungsrichterin, sagt am 5. April 2020 in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung: „Alternativlos“ ist ein anderer Begriff für „Keine Widerrede!“ und damit ein absolut undemokratisches Konzept. Ein ernsthafter Diskurs – etwa darüber, welche Grundrechtseinschränkungen verhältnismäßig sind und welche nicht – könne „auch unter Zeitdruck“ stattfinden, so Zeh weiter. „In einer Demokratie darf man sich die Möglichkeit dazu nicht nehmen lassen.“ (Quelle)
Kultur stellt immer Vielstimmigkeit her. Kultur eröffnet Perspektivenvielfalt und ermöglicht Entscheidungsprozesse. Kultur ist absolut notwendig, um Lust auf Komplexität zu stiften und Eindimensionalitäten aufzubrechen.
Die Politik beschwört geradezu immer wieder den Gedanke des „Gemeinsamen und entschlossenen Vorgehens“. Gemeinsames Vorgehen bedeutet für mich aber eben nicht, eine Gleichschaltung aller, weil einer den Weg und das Ziel kennt und sich Alle an die vorgegebenen Regeln halten müssen. Gemeinsames Handeln heißt für mich: wir begreifen das Ziel und entwickeln unzählige, kleine Aktivitäten, die vielstimmig, partizipativ und kreativ den Weg zum Ziel entwickeln und bereiten.
Die Soziokultur hat immer schon und wird auch weiterhin differenzierte, passgenaue, kulturelle Formate entwickeln, die gesellschaftliche Themen in den Diskurs mit dem Publikum bringen.
Doch zurück zum Alltageschehen: Wir in der Schuhfabrik experimentieren nun im Livestream. Dabei begegnen uns neue Fragen z.B. ist es möglich nur ein Unterhaltungsformat für junge und ältere Menschen anzubieten oder unterscheiden sich die Sehgewohnheiten der Digital Natives von den Digital Migrants doch erheblich?
Was ist postdigital? Wie sehen unsere neuen Begegnungsräume in einer Zeit nach Corona aus? Wo begegnen wir uns und wo treffen wir bewusst auf Unterschiedlichkeit und Neues? Wieviel Homeoffice ist gut und sinnvoll und welche Erfahrungen gehen dabei verloren? Wieviel Kreativität steckt im informellen Zusammensein und können wir dies digital erzeugen und wenn ja, wie?
Ich genieße Unterschiedlichkeit im realen Leben häufig, weil ich einfach sitzen bleibe, manches erst einmal gegen einen aufkommenden Unwillen aushalte und meine Aufmerksamkeit in die Umgebung schweifen lassen kann und dann spannende (Neben-) Erlebnisse entdecke. Im Internet wechsele ich ganz schnell und mit nur einem Klick den Kanal, wenn mich das Gesehene nicht sofort interessiert. Langeweile halte ich dort nicht aus und Ablenkung gibt es durch den fokussierten Bildausschnitt für mich häufig zu wenig.
Nicht nur digital bieten sich uns gerade unzählige, neue Erfahrungen. Auch real befinden wir uns in einer riesigen Laborsituation. Ich wünsche mir, dass die Kulturtreibenden ihre Beobachtungen reflektieren und in künstlerischer Sprache übersetzt uns allen in aller Komplexität zugänglich machen werden. „Wenn der angstvolle Pausenmodus, den die Welt über sich selbst verhängt hat, ein Gutes haben kann, dann dies: dass er die vitalen Fragen nach dem gelingenden Leben aufwirft, ……“ Elisabeth von Thadden „Die Zeit“ vom 8. April 2020.
Wir alle brauchen Kunst und Kultur, um mit einer guten Beobachtungsgabe, gesunder Reflexionsfähigkeit und mit Bedacht unsere Erfahrungen auszuwerten und daraus für die Zukunft zu Lernen.